Europäische Ursprünge der Programmatik
Dies ist ein Beitrag des Blogthemas »Bildungsdynamik der modernen Welt«.
Die transnationale Bildungs- und Entwicklungsprogrammatik hat europäische Ursprünge. Man spricht sogar von »The World Revolution of Westernization«. Der These zufolge ist die Programmatik ein Produkt der fortschreitenden Rationalisierungsprozesse der europäischen Neuzeit. Eine Folgerung der Rationalisierung, also der Entzauberung der Welt, ist die Säkularisierung (Umdeutung).
Die moderne westliche Welt entwickelte sich ausgehend von den christlichen Wurzeln. Früher war die politische und religiöse Ordnung noch viel stärker miteinander verbunden als heute. Der Prozess, der zu dieser Veränderung geführt hat, heißt Säkularisierung.
Säkularisierung sei zum ersten Mal nach dem Dreißigjährigen Krieg aufgetaucht. Zum Abschluss dieses mehrere Jahrzehnte dauernden Religionskriegs wurden die religiösen Institutionen in gewisser Weise enteignet. Der Staat emanzipiert sich immer stärker von den religiösen Vorgaben. Er beansprucht innerweltliche Souveränität und setzt damit den Religionskriegen ein Ende.
An dieser historischen Interpretation wird gezweifelt. Dieser Zweifel ist ein Beispiel für das Streben nach Rationalisierung, nach Entzauberung des Bisherigen. Der neuen Interpretation zufolge sei »Secularisatio« schon früher aufgetaucht und bezeichne den Übergang eines Ordensgeistlichen (an Ordensregeln gebunden) zu einem Weltgeistlichen (an weltliche Regeln gebunden). Von vornherein nimmt der Begriff diese Gegensatzbedeutung in sich auf. Der Übergang, also der Bruch mit dem Bisherigen, kann als Sattelzeit aufgefasst werden.
So selbstverständlich im Mittelalter ein christlich-religiöses Weltbild bestand, genauso selbstverständlich leben wir heute in einem anderem, verweltlichten Weltbild.
Veranschaulichung des Säkularisierungsprozesses
Die sukzessive Transformation von Religiösem zu Weltlichem lässt sich sehr gut an folgendem Bild verdeutlichen: Moses erhält von Gott die Zehn Gebote auf zwei Gesetzestafeln.
Im Laufe der Jahrhunderte wird diese typische Form dieser zwei Gesetzestafel, allerdings ohne göttliche Figur, wiederverwendet. Das Symbol der Gesetzestafeln wird zum Ausdruck revolutionärer Ideen.
So zum Beispiel findet sich die zweigliedrige Tafel bei der Déclaration des Droits de l‘Homme et du Citoyen (Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte) wieder. Diese Rechte wurden von der schon weltlichem Assemblée nationale verabschiedet, aber zusätzlich noch vom König von Gottes Gnaden ausdrücklich akzeptiert.
Die Abbildung zeigt zwei Frauen: Links Francia mit Krone auf dem Kopf, die Ketten der Versklavung zerbrechend. Auf der anderen Seite den Engel als Zeichen der Vernunft, der einerseits mit der Hand auf die Regeln verweist, mit der anderen Hand auf ein Symbol der verweltlichten Göttlichkeit (Auge im Strahlendreieck). Das von dieser Göttlichkeit ausgehende Licht vertreibt die Wolken der Unkenntnis.
In dieser Erklärung werden die Zehn Gebote durch die Menschenrechte ersetzt. Neben den beiden Frauen als Symbol für Frankreich und für die Vernunft sowie neben dem Zeichen eines weltlichen höchsten Wesens gibt es in der Mitte ein Lektorenbündel als Zeichen des staatlichen Machtanspruchs, der Einheitlichkeit/Unteilbarkeit. Die Lanze am oberen Ende des Bündels symbolisiert den gewaltsamen Aufstand, die militäre Gewalt des Staates. Diese Lanze wird abgeschlossen von einer phrygischen Haube, dem Zeichen für Freiheit.
Der zentrale Aspekt, der an dieser Darstellung deutlich werden soll: Die Zehn Gebote werden in die Menschenrechte umgedeutet. So wie die zweitafelige Darstellung säkularisiert wird, werden die neuen Inhalte durch sakrale Darstellung mit neuer Wertigkeit ausgestatt. Weltlicher Inhalt wird sakralisiert, es wird die quasireligiöse Funktion der Menschenrechte verdeutlicht.
Zwei weitere Beispiele der Säkularisierung
- Auf dem Höhepunkt der französischen Revolution gibt es ein ähnliches Bild mit traditionellem Bildrahmen. Engel wird zu »Stärke und Tugend«. Inhalt sind die republikanischen »Zehn Gebote« (Dekalog).
- Bei der Paulskirchenversammlung wurden Grundrechte des deutschen Volkes formuliert, mit sehr ähnlicher Symbolik.
Zusammenfassung
Der Prozess der Säkularisierung hat zu einer Entleerung ursprünglich religiös-theologischen Sinngehalts (mosaische Gesetzestafeln) geführt. Gleichzeitig wurde der Sinngehalt zu einem weltlichen Sinngehalt umgedeutet, der durch die Symbolik mit Würde versehen wird (Sakralisierung der neuen Inhalte).
Die gesamte Geschichte des europäischen Denkens sei eine Überführung von christlichen Anschauungen in die Denkformen der autonomen Vernunft. Das neue Geistesleben ist eine Säkularisierung des christlichen geistigen Gehaltes.
Entstehung von Kernbegriffen
Durch die Säkularisierung religiöser Inhalte sind die Kernbegriffe Fortschritt, Nationalstaat und Individuum in ihrer heutigen Bedeutung entstanden:
- Aus dem christlichen Heils- bzw. Erlösergedanken entwickelte sich das Bestreben nach wirtschaftlich-sozialem Fortschritt. Wie sich diese Entwicklung vollzog, wird im kommenden Beitrag dargestellt.
- Aus der Emanzipierung und Nationalisierung staatlicher Ordnung infolge der Entflechtung von politischer und religiöser Ordnung entstand der Nationalstaat.
- Reformation und Gegenreformation wurden säkularisiert zur Individualisierung des Einzelnen, zum Individuum.