Monsieur Becker

Panorama

Stundentafel „entschlacken“!?

Sonntag, 18. Februar 2024

Glück, Fit for life, Digitalkunde … an Ideen für und Forderungen nach neuen Schulfächern mangelt es beileibe nicht. Doch sollte man angesichts fehlender Lehrkräfte nicht eher den entgegengesetzten Weg gehen und die Stundentafel kürzen?

Im Januar 2023 hat die Ständige Wissenschaftliche Kommission (kurz: SWK) der Kultusministerkonferenz (kurz: KMK) „Empfehlungen zum Umgang mit dem akuten Lehrkräftemangel“ (PDF) veröffentlicht. In Reaktion darauf gründete sich ein „Bildungsrat von unten“. Eben jener Zusammenschluss von Lehrkräften und Bildungsaktivist:innen hat nun zu den SWK-Empfehlungen eine Stellungnahme (PDF) veröffentlicht und darin neun eigene Empfehlungen formuliert. Diese liegen zusammengefasst als Manifest (PDF) vor.

Die Auseinandersetzung mit Manifest und Stellungnahme ist die zweite Blogparade. Bisher sind vornehmlich Blogartikel zur Arbeitszeiterfassung (Forderung 7) erschienen. Hier geht es um eine andere Forderung.

Forderung des „Bildungsrates von unten“

Da Lehrer:innen trotz aller Bemühungen nicht auf Bäumen wachsen, identifiziert der Bildungsrat als eigentliche Stellschraube die Stundentafel. Diese soll, so Empfehlung Nummer 6, auf den Prüfstand gestellt und entschlackt werden:

Das wirksamste und schnellste Mittel gegen den Lehrkräftemangel sind die temporäre Kürzung der Stundentafel und die Straffung von Unterrichtsinhalten. Zur Straffung bieten sich vor allem in den Lernbereichen Gesellschafts- und Naturwissenschaften auch die Bildung von Fächerverbünde an. […]
(Stellungnahme S. 27, Manifest S. 2)

Zugespitzt formuliert: Weniger Stunden, weniger Inhalt.

Die SWK (S. 9) selbst sagt zur Reduktion der Stundentafel:

Wo immer Stundentafeln ausgedünnt werden, sollte dies nicht auf Kosten der Kernfächer Deutsch und Mathematik und an den Übergängen geschehen, auch nicht auf Kosten der ohnehin schon benachteiligten Kinder und Jugendlichen und Schulen in schwierigen Lagen.

Der „Bildungsrat von unten“ merkt in seiner Stellungnahme (S. 26) an, dass insbesondere in Schulen in schwierigen Lagen der Unterricht aufgrund des Lehrkräftemangels faktisch schon gekürzt wird. Er fordert „angesichts des bestehenden Notstands in einer konzertierten Aktion – und auf einige Jahre beschränkt – den Umfang der Stundentafel […] flächendeckend […] [zu] kürzen“ (ebd.). Die KMK solle „länderübergreifend eine Verständigung“ „[ü]ber die Form und die Fächerschwerpunkte“ (ebd.) finden.

Beispielhaft schlägt der Bildungsrat eine Reduzierung um 3 Wochenstunden vor, bei 30 Stunden wäre dies eine Entlastung um 10 %. Ein kurzer Blick auf die Situation in Berlin: Hier haben Schüler:innen an Integrierten Sekundarschulen und Gemeinschaftsschulen in der 7./8. Klasse 31 pro Woche zuzüglich sogenannter Schülerarbeitsstunden, in 9/10 sind es 32 Wochenstunden (Sek-I-VO Anlage 1). Am Gymnasium haben die Schüler:innen 33 (7/8) respektive 34 Stunden (9/10) laut Stundentafel (Anlage 2). Die prozentuale Entlastung bei drei Wochenstunden wäre in Berlin somit geringfügig geringer, der Spareffekt aber spürbar.

Berliner Stundentafel am Gymnasium

Ein Blick auf die Stundentafel der Sekundarstufe I am Gymnasium zeigt, dass man 3 Stunden gar nicht an sooo vielen Stellen einsparen kann.

„temporär“

Wo nun kürzen? Bevor ich darauf eingehe, ein kurzer Exkurs zum temporären Charakter einer solchen Kürzung. Denn seien wir realistisch – eine temporäre Kürzung bzw. Straffung wird nicht temporär bleiben, sondern verstetigt werden. Reformen dienen allzu oft dazu, Geld zu sparen, auch wenn man andere Gründe vorschiebt. Wenn dann erst mit Aufwand ein neuer Rahmenlehrplan erarbeitet wurde und die Schulen diesen dann in Curricula umgesetzt haben, wird es kein Zurück mehr geben. Die Kürzung wird angesichts des Lehrkräftemangels auch mindestens zehn Jahre notwendig sein, sodass die Stundentafel dann als normal betrachtet werden wird. Zu groß werden des Weiteren auch die Begehrlichkeiten sein, die wertvollen Stunden neu zu verteilen. Wenn schon wieder mehr Stunden, dann für Berufsorientierung am Gymnasium. Oder das Pflichtfach Informatik. Welches Fach auch immer Stunden jetzt temporär verliert, wird sie dauerhaft verlieren.

Profilstunden

Die einfachste Einsparoption sind wahrscheinlich die Profilstunden. Wenn man sie streicht, würde man keinem Fach wehtun. Allerdings kürzte man dann auch die Angebote, die Schüler:innen selbst wählen können. In jenen Stunden können Schulen neben dem regulären Unterricht ihr(e) Profil(ierung) stärker betonen, was den Charakter der Schulen ohne Zweifel veränderte.

Auch entlastete die Kürzung Schulen nicht, denen Physik- oder Kunstlehrkräfte fehlen und die das reguläre Unterrichtsangebot personell nicht leisten können.

Natur- oder Gesellschaftswissenschaften?

Bei den Naturwissenschaften (Nawi) wird nicht gekürzt werden. Das lässt sich im Ingenieur:innen-Land Deutschland politisch nicht durchsetzen, wenn auch der Mangel an Lehrkräften in diesem Bereich groß ist. Eine Zusammenlegung zu einem Lernbereich ist aus meiner Sicht auch deshalb schwierig, da zumindest an meiner Schule nicht viele Lehrkräfte zwei Nawi-Fächer haben. Ja, eine Biologielehrkraft kann sich bespielsweise chemische und physikalische Basics aneignen, aber es werden eben nur Basics bleiben. Die von den Universitäten bemängelte Situation, dass Studienanfänger:innen immer weniger mitbringen, wird sich dadurch nicht verbessern.

Dies gilt auch für die Gesellschaftswissenschaften (Gewi). Schüler:innen haben in der Grundschule Gewi und man merkt dann in Klasse 7 im Unterricht viel zu häufig, dass die Lehrkraft hat eigentlich verpflichtende Geografieinhalte wegfallen lassen.

Eine Zusammenlegung von Fächern zu einem Lernbereich erfordert meines Erachtens insbesondere zu Beginn einen enormen Aufwand für die Fachbereiche und die unterrichtenden Lehrkräfte. Ob sich so die Arbeitsbelastung reduzieren lässt, ich bezweifle es.

Deutsch und Mathematik

Die SWK hat gleich klargestellt, dass man Deutsch und Mathematik nicht kürzen dürfe. Doch wieso eigentlich nicht? Sollte nicht in jedem Fach auch jede Stunde eine Deutschstunde sein? Zugegeben, dieser Satz reduziert den Deutschunterricht auf Rechtschreibung und Schreiben üben. Aber könnte man nicht wenigstens einen Teil dieser kontinuierlichen Spracharbeit tatsächlich in allen Fächern verankern, damit der Deutschunterricht stärker ein Fachunterricht ist, dann nur noch drei- statt vierstündig?

Für Mathematik fällt es mir schwerer, hier Einsparpotenzial zu sehen.

zweite Fremdsprache

In jüngster Zeit wird häufiger in Frage gestellt, ob Schüler:innen wirklich noch eine zweite Fremdsprache lernen müssen. Ich finde: unbedingt!

Sport

Oben schrieb ich bereits, dass immer wieder Klagen laut werden, dass sich (nicht nur) junge Menschen zu wenig bewegten und es daher eher unwahrscheinlich ist, hier Stunden einzusparen.

Eine mögliche Idee, mit der man vielleicht eine Kürzung auf zwei statt drei Wochenstunden rechtfertigen könnte: Gutscheine für Sportvereine der eigenen Wahl (Judo, Turnen, Schwimmen, Basketball …). Mutmaßlich verschiebt man hier aber nur das Personalproblem von der Schule in den Sportverein?

Woher nun nehmen?

Ich bin sehr froh, nicht in der Position zu sein, entscheiden zu müssen, welches Fach nun reduzieren oder gar in einem Lernbereich aufgehen muss. Egal, wo man was streicht, es hat immer (einige) Vor- und (noch mehr) Nachteile. Es wird auch nicht nur temporär, sondern dauerhaft sein.

Am Ende wird es jene Fächer mit der geringsten Lobby treffen oder jene mit dem geringsten gesellschaftlichen Prestige. Dazu gehören beispielsweise meine beiden Unterrichtsfächer. Geografie läuft trotz der Klimakrise und globaler Probleme immer unter „ferner liefen“. Und Französisch hat wie alle zweiten Fremdsprachen ein zunehmendes Akzeptanzproblem.

Ferner zu bedenken: Durch die Reduktion der Stundentafel werden sehr viele Schulen personell einen Überhang haben und es werden Kolleg:innen die Schule verlassen müssen. Drei Stunden pro Klasse entspricht bei 26 Stunden Arbeitszeit pro Woche bei uns an der Schule über den Daumen gepeilt zwei in Vollzeit arbeitenden Lehrkräften oder drei bis vier Teilzeitlehrkräften. Regeln dafür, wie das vermeintliche Zuviel an Personal abgebaut werden muss, gibt es. Doch das wird für massiven Unmut sorgen.