Systemkompetenz im Geografieunterricht
Der Ernst-Klett-Verlag hat heute im Berliner Treffpunkt zur Fortbildung »Die Systemkompetenz im Geografieunterricht« geladen. Der Referent Prof. Dr. Rainer Uphues beleuchtete in seinem rund einstündigen Vortrag drei Aspekte der Systemkompetenz: Herausforderungen, Diagnostik und Förderung. Definition Beginnen wir mit der wichtigsten Frage: Was verstehen wir unter Systemkompetenz? Ich zitiere aus dem Hand-out: Systemkompetenz meint die Fähigkeit, […]
Der Ernst-Klett-Verlag hat heute im Berliner Treffpunkt zur Fortbildung »Die Systemkompetenz im Geografieunterricht« geladen. Der Referent Prof. Dr. Rainer Uphues beleuchtete in seinem rund einstündigen Vortrag drei Aspekte der Systemkompetenz: Herausforderungen, Diagnostik und Förderung.
Definition
Beginnen wir mit der wichtigsten Frage: Was verstehen wir unter Systemkompetenz? Ich zitiere aus dem Hand-out:
Systemkompetenz meint die Fähigkeit, komplexe Wirklichkeitsbereiche als Systeme beschreiben, rekonstruieren und modellieren zu können und auf der Basis der Modellierung Erklärungen geben, Prognosen treffen und Handlungsmöglichkeiten entwerfen und beurteilen zu können.
Wozu Systemkompetenz?
Systemkompetenz und Geografie passen gut zu einander, da sich die Geografie als Systemwissenschaft versteht (vgl. Bildungsstandards Geografie: 10f.). Die Elemente der Geofaktoren bilden eine Struktur, sie haben eine Funktion und unterliegen Prozessen. Diese drei Systemkomponenten können auf verschiedenen Maßstabsebenen – von lokal bis global – untersucht werden.
Die komplexe Wirklichkeit zu beschreiben, zu rekonstruieren und zu modellieren ist für das Lösen von schwierigen Problemen unverzichtbar. Menschen haben allerdings oft den Drang, in Tat-Folge-Zusammenhängen zu agieren. Das bedeutet, dass sie ein entstehendes Problem unmittelbar lösen möchten, ungeachtet, ob es sich dabei um die sinnvollste und beste Lösung handelt. Auf diese Weise spielt sich oft ein Trial-and-error-Zyklus ab. Uphues illustriert ihn an zwei Beispielen, dem E10-Kraftstoff und Nike-Fußbällen. Der neue Kraftstoff mit erhöhtem Biospritanteil wurde kurzfristig ohne gründliche Vorbereitung eingeführt. Schnell hat man festgestellt, dass niemand ausreichend über E10 informiert war, weshalb die Autofahrer ihn aus Sorge vor Motorschäden mieden. Auch entpuppte sich Biosprit als wenig umweltfreundlich: Ackerflächen für Nahrungsmittel mussten weichen, Regenwälder wurden für Schnellwuchsplantagen abgeholzt. Die Rückseite der Medaille wurde schlichtweg nicht bedacht. Ebenso nicht beim Sportartikelhersteller Nike, der sich in den 1990er Jahren Vorwürfen ausgesetzt sah, dass Fußbälle in Kinderarbeit hergestellt werden. Unter dem Druck der Allgemeinheit beendete das Unternehmen schnell die Praxis; mit katastrophalen Folgen für die Kinder. Ihre Familien waren weiterhin auf das Einkommen der Kinder angewiesen, wodurch diese in die Prostitution oder in den Bergbau gedrängt wurden. Arbeiten, die weitaus gefährlicher und zehrender sind als das Nähen von Fußbällen. Die beiden Beispiele zeigen, dass sich Schnellschusslösungen oft negativ auswirken.
»Die Lösungen von heute sind vielfach die Probleme von morgen.«
(leider vermochte ich nicht, mir die Quelle zu notieren)
Ein guter Problemlöser ist daher derjenige, der ein Problem länger, dafür aber multiperspektivisch betrachtet, und erst dann handelt. Diese Form des umfassenden Denkens heißt »inkludierendes Denken«. Ein guter Problemlöser ist systemkompetent.
Facetten und Niveaus
Auf die Facetten der Systemkompetenz ging Uphues nur beiläufig ein. Er nennt insgesamt sieben Teilaspekte in drei (nicht näher spezifizierte) Gruppen: (A) Systemstruktur und -grenze, (B) Systeminteraktion, -dynamik und -emergenz sowie (C) Systemprognose und -regulation.
Eine Gliederung der Systemkompetenz in Niveaustufen wird derzeit erarbeitet und soll durch Tests empirisch abgesichert werden.
Diagnostik und Förderung
Eine Möglichkeit, Systemkompetenz zu diagnostizieren und zu fördern, ist folgende Aufgabe: Die Schülerinnen und Schüler stellen den Unterrichtsstoff der vergangenen Stunden als Strukturdiagramm bzw. Concept Map dar. Dabei gilt als Faustregel, dass Schüler, deren Diagramm eher wenige Elemente sowie nur monokausale und lineare Vernetzungsarten aufweisen, über eine geringere Systemkompetenz verfügen als Schüler, in deren Diagramm viele Elemente komplex vernetzt wurden. An die Erstellung müssen sich Verständnisfragen anschließen, denn nur weil man gut Wirkungsdiagramme erstellen kann, bedeutet das noch nicht, dass man eine Thematik vollends durchdacht hat.
Eine weitere, sehr interessante Methode ist die Dilemmadiskussion. Unsere komplexe Welt ist weder schwarz noch weiß, selten gibt es eindeutig richtig und falsch. So wie bei dem obigen Beispiel mit den Nike-Fußbälle nähenden Kindern. Nachdem das Problem des Dilemmas identifiziert wurde, setzen sich die Schüler fachlich mit der Thematik auseinander und debattieren, um zu einer abschließenden individuellen Wertung zu kommen. Dass es dabei nicht die Lösung gibt, dass man sich immer etwas unsicher bleibt, das müssen die Schülerinnen und Schüler ertragen lernen. Diese Fähigkeit wird Ambiguitätstoleranz genannt. Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass Schüler ausgesprochen ambiguitätstolerant sind und es begrüßen, die intensiv durchdachte Thematik richtig zu verstehen.
Wirkungsdiagramme eignen sich auch, um Schüler für mentale Modelle zu sensibilisieren. Dazu erfasst jeder Schüler vor einer Unterrichtsreihe seine individuelle Vorstellung zu diesem Thema. Der Lehrer bezieht sie in den Unterricht mit ein. Idealerweise verändern sich die mentalen Modelle während der Reihe und nähren sich an die wissenschaftliche Theorie an. Ein erneutes Strukturdiagramm in Anschluss an die Unterrichtsreihe ermöglicht einen Vergleich, also eine Bewusstmachung des eigenen Lernzuwachses, ebenso eine Diagnose des Lernstandes.
Systemkompetenz und andere Kompetenzen
Jetzt, da ich diesen Blogartikel schreibe, kommt bei mir die Frage auf, in welchem Verhältnis die Systemkompetenz zu den sechs DGFG-Kompetenzbereichen (a) Fachwissen, (b) räumliche Orientierung, (c) Erkenntnisgewinnung/Methoden, (d) Kommunikation, (e) Beurteilung/Bewertung und (f) Handlung bzw. den fünf Kompetenzbereichen des Berliner Rahmenlehrplans (i) Raumorientierung, (ii) Raumanalyse und -erschließung, (iii) Raumverständnis und Problemsicht, (iv) Raumbewertung sowie (v) Raumbewusstsein und Raumverantwortung steht.
Obwohl ich normalerweise mit dem DGFG-Kompetenzmodell besser klarkomme – es ist im Übrigen auch das einzige, das an der Universität thematisiert wurde –, erscheint mir das raumbezogene Kompetenzmodell des Berliner Rahmenlehrplans besser mit der Systemkompetenz vereinbar. (v) Raumbewusstsein und Raumverantwortung werden darin beschrieben als
die Fähigkeit und die Bereitschaft, an der Gestaltung von Lebensräumen bewusst teilzunehmen und dabei Verantwortung für die Bewahrung der Lebensgrundlagen auch für zukünftige Generationen zu übernehmen. Dieser Kompetenzbereich ist als Zielgröße zu verstehen, die sich nur langfristig herausbildet und die Entwicklung der oben genannten Kompetenzen [(i) bis (iv), Anmerkung von Julius Becker] voraussetzt.
(Quelle: Berliner Rahmenlehrplan 2006: 11)
Diese Definition deckt sich natürlich nicht mit der von Systemkompetenz, die Richtung ist jedoch sehr ähnlich.